Verharmloster Terrorort

geschrieben von Axel Holz

7. Januar 2023

»Colonia Dignidad«: Buch zur BRD-Außenpolitik im Umgang mit Sekte in Chile

Mitte Oktober hat Bodo Ramelow (Die Linke) als Vorsitzender des Bundesrats und bisher ranghöchster Vertreter Deutschlands zusammen mit Jens-Christian Wagner, dem Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, Chile besucht. Politik und Justiz sind aber bereits seit den 1960er Jahren mit dem wohl größten deutschen Verbrechen der Nachkriegsgeschichte befasst, ohne diese Verbrechen aktiv zu verhindern oder wirkungsvoll zu verfolgen.

Jan Stehle hat auf 600 Seiten den Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen zwischen 1961 und 2020 untersucht. Es geht um die kriminelle Organisation »Colonia Dignidad« (CD) des Sektengründers Paul Schäfer, der sich bereits Anfang der 1960er Jahre einer Strafverfolgung wegen sexualisierter Übergriffe auf Kinder durch die Flucht nach Chile entzog. Die tausendfachen Sexualverbrechen wurden erst mit der Flucht des Ehepaars Georg und Lotti Irene Packmor 1985 öffentlich und Informationen durch den BRD-Botschafter in Chile, Hermann Holzheimer, an das Auswärtige Amt weitergeleitet.

Ein Haftbefehl gegen Schäfer wurde bereits 1970 auf Antrag der Staatsanwaltschaft Bonn gelöscht. Auch weitere Verbrecher aus der Führungsriege wurden nach der beginnenden Aufklärung und juristischen Verfolgung ab den 90er Jahren in Chile trotz ihrer Flucht in die BRD hier niemals angeklagt, geschweige denn ausgeliefert. Bereits in den 1960er Jahren waren durch die Flucht mehrerer Kolonisten die sklavenartigen CD-Verhältnisse vielfach in der Presse öffentlich gemacht worden, ohne dass bis zum Sturz der Diktatur jemals durch die chilenische oder die deutsche Regierung eine wirksame juristische Verfolgung der Verbrechen erfolgte. Im Gegenteil, das Opfer Wolfgang Müller wurde selbst wegen angeblicher Verleumdung zu fünf Jahren Haft in Chile verurteilt. Der Schäfer-Sekte gelang es, in engem Kontakt mit Mächtigen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik erfolgreich Zeugenaussagen mit eidesstattlichen Erklärungen zu begegnen. Sie erreichte, dass die Veröffentlichung von Presseartikeln des Stern und die Veröffentlichung der Recherche von Amnesty International juristisch massiv erschwert wurde. Ziel der Lobbyarbeit war es, die angebliche »Kolonie der Würde« als wohltätige Gemeinschaft mit sozialem Auftrag bis in deutsche Gerichte zu platzieren.

Schutz der Täter

Jan Stehle: Der Fall Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961–2020. transcript verlag, Bielefeld 2021, 644 Seiten, 29 Euro

Jan Stehle: Der Fall Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961–2020. transcript verlag, Bielefeld 2021, 644 Seiten, 29 Euro

Zwar wird durch Stehle das Gerücht über die Kolonie als Zufluchtsort deutscher Nazis ausgeräumt, dennoch hatten deutsche Altnazis engsten Kontakt zur Kolonie. So pflegte Gerhard Mertins, einer der Befreier Benito Mussolinis, später als BND-Agent engste Kontakte zum chilenischen DINA-Geheimdienstchef Manuel Contreras, unter dessen Leitung tausende Oppositionelle verschwanden. Mertins organisierte Waffengeschäfte nach Chile, in die auch die CD verwickelt war. Noch in der 1980er Jahren wurden Unmengen an modernen Waffen und Ausrüstung auf dem Gelände der CD gefunden. -Dies verdeutlicht einmal mehr, dass die Kolonie als sektenartig geführtes Gefängnis mit Folterkeller, Prügelorgien und Sklavenarbeit angesehen werden sollte. Es war ein Ort von Mord, Entführung, Vergewaltigung, Experimenten mit Psychopharmaka und Gehirnwäsche, ein Platz der Zensur, von Rentenbetrug, Waffenschmuggel und Giftgasproduktion. Hier wurden dutzende Kolonisten umgebracht, auch hunderte chilenische Oppositionelle wurden gefoltert und ermordet. Spätestens seit 1985 trügen BRD-Behörden eine Mitverantwortung für die Fortsetzung der Verbrechen, indem sie sich zwar mit dem Ort befassten, aber keinerlei Beitrag zur Aufklärung leisteten, beklagt der Autor. Zudem betrachteten die BRD-Behörden die CD-Verbrechen stets als Einzeltaten, ohne deren systematischen Zusammenhang zu berücksichtigen. Die politische Grundsatzentscheidung der Bundesregierung, auch nach 2005 eine vollständige Auflösung der Kolonie zu verhindern, trage dazu bei, die Machtstrukturen der Sektengemeinschaft als Folklorepark »Villa Bavaria« zu bewahren und die kritische Aufarbeitung des so gestärkten Schweigekartells zu verhindern.

Gedenkmaßnahmen erforderlich

Der Autor nennt abschließend wichtige politische Schritte der Aufklärung, die bisher ausgeblieben sind. Dazu zählt die Schaffung einer Wahrheitskommission, die nicht nur die Verbrechen der CD aufklären, sondern auch die Verantwortlichen dafür benennen soll, einschließlich der politischen Mitverantwortung der BRD. Dafür müssten alle zum Fall CD existierenden Akten offengelegt werden, die es den Opfergruppen ermöglichen würden, ein Leben in Würde zu führen, unabhängig von den Strukturen der Post-Sektengemeinschaft. Juristisch fehle bis heute die Einordnung der Sekte als kriminelle Organisation, die systematisch Verbrechen begangen hat. Dies würde auch eine Verurteilung der Täter für Beihilfe zum Mord ermöglichen, ohne dass eine persönliche Tötungsabsicht nachgewiesen werden müsse. Zudem solle ein Gedenk-, Dokumentations- und Lernort eingerichtet werden. Erfolgen müsste auch eine Überprüfung des offiziellen und versteckten Vermögens der CD, das den Opfern zugutekommen solle.