Verdrängung ganz nah

geschrieben von Axel Holz

27. April 2024

Der Film »The Zone of Interest« beschreibt das Familienleben des Auschwitzkommandanten Höß

Filme über KZs der Nazis gehören mittlerweile zum kulturellen und politischen Erbe, um an den Holocaust zu erinnern. Frank Beyers -DEFA-Film »Nackt unter Wölfen« hat in der DDR Schülergenerationen begleitet, die Verfilmung von Jurek Beckers »Jakob der Lügner« die Oskar-Nominierung eines DEFA-Films ermöglicht, und auch »Morituri«, Regisseur Eugen York, Produzent Artur Brauner, sorgte in der Alt-BRD für Aufsehen. Alle drei Filme spielen im KZ und zeigen die Sicht der Häftlinge.

Jonathan Glazers Film wechselt die Perspektive in Richtung Täter, und statt Grauen zu zeigen, macht er es hörbar. Er nimmt einen ungewöhnlichen Blickwinkel auf die Deutschen ein und betrachtet die ungeliebte Schwester des Vergessens, die Verdrängung. Die Verfilmung von Martin Amis’ Roman »Interessengebiet« betrachtet das Familienleben des Auschwitz-kommandanten Rudolf Höß hinter der Mauer des KZ – zusammen mit seiner Frau Hedwig, fünf Kindern, drei Angestellten und einem Hund.

Die Villa ist von einem Garten umgeben, den Hedwig Höß das »Paradies« nennt und sich selbst »Königin von Auschwitz«. Während sie ihre Kinder gelegentlich streng zur Ordnung ruft, Rudolf Höß sie zugleich liebevoll umhegt und abends mit ihr vor dem Schlafen lacht und Belanglosigkeiten austauscht, hört man aus dem KZ ständig Zuggeräusche, Schreie, Schüsse und das Bellen von Hunden. Das Ganze wirkt wie eine Blaupause der Banalität des Bösen. Tag und Nacht lodern und donnern die Schornsteine der Krematorien, während sich Asche über die Gegend legt, die die Nase regelmäßig verstopft. Der Film deutet die Traumata der Höß-Kinder an, um die sich niemand kümmert. Wenn der Vater seiner Tochter das Märchen von Hänsel und Gretel vorliest und darin die Hexe im Ofen verbrannt wird, stockt der Atem. Im Hause Höß wird über Auschwitz und Politik nicht geredet.

Hedwig Höß gibt sich auch als engagierte Bäuerin und Gärtnerin, deren einzige Interessen der nächste Urlaub, das Make-up, Treffen mit Freundinnen, Geburtstage und Klamotten sind, die als geraubte Pelzmäntel oder Damenwäsche regelmäßig aus dem Lager ankommen. Sie weiß über Auschwitz Bescheid und droht einer Zwangsangestellten, bei Ungehorsam ihrem Mann zu befehlen, deren Asche über die Felder zu verstreuen. Sie wird von ihrer Mutter bei einem Besuch wegen des großzügigen Hauses bewundert. Nach kurzer Zeit fährt die jedoch wieder ab und hinterlässt wortlos einen Brief, den ihre Tochter wütend verbrennt. Sie will nicht daran erinnert werden, wie unerträglich das Leben in Auschwitz ist, das sie führt. Zugleich ist sie es, die ihren Ehemann zur Karriere antreibt und darauf besteht, in Auschwitz zu bleiben, während er nach Oranienburg versetzt wird.

»The Zone of Interest«, Regie: -Jonathan Glazer, UK/USA/Polen 2023, 105 Min., seit 29.2. im Kino.Foto: Leonine Studios

»The Zone of Interest«, Regie: -Jonathan Glazer, UK/USA/Polen 2023, 105 Min., seit 29.2. im Kino.
Foto: Leonine Studios

Rudolf Höß kehrt mit dem Auftrag nach Auschwitz zurück, die Vernichtung von 600.000 ungarischen Juden in die Wege zu leiten. Der Auftrag wird schnell nach ihm (»Höß-Aktion«) benannt. Rudolf Höß wird morgens zur Arbeit verabschiedet, zu der er sich auf einem Pferd begibt. Er selbst erscheint eher ruhig und unscheinbar. Der akribische Technokrat des Staatsterrors wird vom Überlebenden und Friseur des Lagerkommandanten Józef Paczyński als »ganz normaler, ehrlicher, ruhiger und schweigsamer Mensch« beschrieben, »der niemanden schlug«. Höß verfasst in seinem Büro eine Anweisung zum Schutz von Fliederbüschen auf dem KZ-Gelände »im Interesse der Gemeinschaft und zur Ausschmückung des Lagers«. Ab und zu muss er selbst kotzen oder lässt sich Sexsklavinnen im Keller zuführen.

Rudolf Höß wird von Christian Friedel als weicher Charakter gespielt. Zusammen mit Sandra Hüller als Hedwig Höß meistern sie ihre schwierigen Rollen in einem nachgebauten Haus mit versteckten Kameras und lassen ihre Figuren Menschen ähneln, die sie aber nicht erklären.

Der Film des US-Regisseurs und Drehbuchautors Jonathan Glazer, der aus einer jüdischen Familie stammt, hat einen Oscar als bester internationaler Film erhalten und einen zweiten für den dissonanten Sound, der die vorgelogene Harmonie der Höß-Familie im Film konterkariert. Deren Scheinwelt wird nur durch zwei weitere Ebenen durchbrochen, die wohl darauf hinweisen sollen, was im Film nicht zu sehen ist und nur als Geisterfilm im Kopf der Zuschauer mitläuft, nämlich an einem Ort der Vernichtung und des Grauens zu sein. In verfremdeten Bildern ist zu sehen, wie eine Höß-Angestellte unter Lebensgefahr nachts Lebensmittel für KZ-Häftlinge an deren Arbeitsort außerhalb des Lagers versteckt, und zum Schluss reale Angestellte der Gedenkstätte Auschwitz beim Saubermachen des Museums. Es ist kein Traum, den der Zuschauer gerade erlebt hat, sondern die Wirklichkeit. Der Film lässt die Zuschauer nachdenklich und betroffen zurück. Vielleicht mit dem Gedanken, wie sehr Verdrängung angesichts des tausendfachen Mordens vor der Haustür möglich sein kann, und vielleicht auch darüber, was heute alles verdrängt wird.

Die internationale Koproduktion zwischen dem Vereinigten Königreich, Polen und den USA wurde im Mai 2023 beim Internationalen Filmfestival von Cannes uraufgeführt, wo der Film großes Lob seitens der Filmkritik erfuhr. Bei der Oscar-Verleihung 2024 erhielt das Werk die Preise für den besten internationalen Film und den besten Ton.